Francesco und Silvestro: Eine Freundschaft ohne Happy End
Francesco und Silvestro: Eine Freundschaft, die Jahrzehnte überdauerte
Eine Geschichte aus den Nachkriegsjahren, die in Montescaglioso begann
Wenn der Wein die Zunge löst
Draußen auf der Terrasse, der Grillabend neigt sich dem Ende zu. Im Hintergrund dudeln die alten Schlager aus den Sechzigern – diese Lieder haben tatsächlich etwas Schönes, wenn man sie nicht zu oft hört. Der Wein hat seine Wirkung getan, die Stimmung ist entspannt.
"Papi, erzähl uns doch mal eine deiner Geschichten", bitte ich Francesco zwischen zwei Liedern.
"Was willst du hören?", fragt er zurück, während er an seinem Glas nippt.
"Eine aus deiner Jugend. Die von Silvestro zum Beispiel – an die kann ich mich nicht mehr so gut erinnern."
Und dann beginnt mein Vater zu erzählen. Von Silvestro. Von seinem besten Freund. Vielleicht sogar dem einzigen richtigen Freund, den er je hatte.
Die Wurzeln einer außergewöhnlichen Freundschaft
Francesco und Silvestro – geboren 1943, mitten in den Kriegswirren. Aufgewachsen in einer Zeit, die wenig Raum für Sentimentalitäten ließ. Aber zwischen den beiden entwickelte sich etwas Besonderes. Eine Symbiose, wie Francesco es nennt.
"Ein Blick, stumm, und wir wussten alles."
So beschreibt mein Vater diese seltene Art der Verbindung. Silvestro folgte ihm überall hin. Bedingungslos. Als Francesco zur Musterung nach Bari musste – natürlich kam Silvestro mit.
Montescaglioso in den 1940er Jahren
Um diese Geschichte zu verstehen, muss man sich Montescaglioso in der Nachkriegszeit vorstellen. Süditalien. Eine kleine Stadt in der Basilikata, geprägt von Armut, Hunger und dem Neuanfang nach dem Krieg. Die Menschen hielten zusammen, Freundschaften entstanden aus gemeinsamen Entbehrungen.
In dieser kargen Landschaft lernten Francesco und Silvestro jeden Baum, jede Pflanze im Umkreis von fünf Kilometern kennen. Sie wussten genau, wo das beste Obst wuchs – und holten sich "hin und wieder etwas, um den Magen zu sättigen".
Hunger und Armut machen erfinderisch. Und manchmal auch unvorsichtig.
"Wir waren so arm, wir haben sogar Oliven geklaut, um Schulhefte kaufen zu können".
Die Musterung in Bari - oder wie man einen Offizier wegstößt
Anfang der 1960er Jahre bedeutete eine warme Mahlzeit fast so viel wie ein Sechser im Lotto. Bei der Musterung hatten die jungen Männer Anrecht auf genau das – eine warme Mahlzeit.
Francesco aß gerade, als er gestört wurde. Es kam zum Handgemenge. Der Rest ist fast wie aus einem Western: Der Offizier flog durch die Saloon-Tür aus dem Raum.
Francesco aß seelenruhig weiter.
Sekunden später: bewaffnete Verstärkung, 3-4 Tage Hausarrest in der Kaserne. Und Silvestro? Wartete auf der anderen Seite der Kaserne, pfiff immer dieselbe Melodie. Francesco pfiff zurück.
So funktionierte ihre Freundschaft. Ohne große Worte, aber mit absoluter Verlässlichkeit.
(Die ganze Geschichte zur Musterung in Bari in der Kaserne 1961)
Obstdiebstahl und Loyalität
Bei einer ihrer "Beschaffungsaktionen" wurden sie erwischt.
Ich weiß nicht mehr, ob es Äpfel oder Birnen waren. "Na, schmeckts?", fragte der Grundstücksbesitzer.
Sie rannten. Francesco entkam, Silvestro nicht. Er wurde angezeigt, hielt aber still. Verriet seinen Freund nicht. In den 1960er Jahren war das noch etwas wert – Loyalität bis zum bitteren Ende.
Der Traum von Deutschland
Italien bot wenig Perspektiven für junge Männer wie Francesco und Silvestro. Deutschland hingegen lockte mit Arbeit und besseren Löhnen. Als Francesco den Schritt wagte und nach Mailand ging, war klar: Silvestro würde folgen.
Und als es Francesco schließlich von Mailand nach Karlsruhe verschlug? "Es war nur eine Frage der Zeit", erzählt Francesco mit einem Lächeln. "Tatsächlich kam auch Silvestro nach Karlsruhe."
Kann man einen größeren Beweis der Freundschaft zeigen?
Karlsruhe: Das Schlaraffenland der 1960er
Die Geschichte der italienischen Gastarbeiter in Deutschland ist bekannt. Für Francesco und Silvestro wurde Karlsruhe zur neuen Heimat. Deutschland war damals ein Schlaraffenland für junge Menschen, die arbeiten wollten.
Tagsüber schufteten sie, abends gingen sie tanzen oder unterhielten sich stundenlang. "War schön", fasst Francesco diese Zeit zusammen. Manchmal reichen die einfachsten Worte.
Ein Unfall verändert alles
Dann kam der Tag, der alles veränderte. Silvestro kaufte sich ein Auto – ohne gültigen Führerschein. Der Unfall passierte in der Kriegsstraße, Ecke Rüppurrer Straße in Karlsruhe.
"Ich fragte ihn natürlich, warum er so blöd gewesen wäre", erinnert sich Francesco. Silvestro konterte: "Warum hackst du auf mir herum?"
Sie schauten sich an. Umarmten sich. Wahre Freundschaft eben.
Aber der Unfall hatte Konsequenzen. Silvestro musste die Zelte in Karlsruhe abbrechen und nach Frankreich fliehen. Der Abschied war schwer.
Abschied ohne Wiedersehen
Silvestro ging nach Paris. Francesco blieb in Karlsruhe.
"Das Leben schreibt nicht immer ein Happy End", sagt mein Vater und blickt in die Ferne. Die Schlager aus den Sechzigern spielen immer noch im Hintergrund. Manche Geschichten haben kein versöhnliches Ende – sie zeigen nur, wie das Leben manchmal läuft.
Was bleibt? Die Erinnerung an eine Freundschaft, die Kontinente überdauerte. An zwei junge Männer aus Montescaglioso, die gemeinsam ihre Träume verfolgten, bis das Schicksal sie trennte.
Und die Gewissheit, dass wahre Freundschaft nicht an Orten gemessen wird, sondern an gemeinsamen Erinnerungen.
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Mein Vater ist ein Sammelsurium von Geschichten und Anekdoten. |
Labels: Francesco, Silvestro, Montescaglioso, Nachkriegszeit, Italien, Deutschland, Karlsruhe, Freundschaft, Gastarbeiter, 1960er Jahre, Basilikata, Bari, Musterung, Paris, Emigration, Lebensgeschichte
Meta-Beschreibung: Die bewegende Geschichte der Freundschaft zwischen Francesco und Silvestro - zwei Männer aus Montescaglioso, die in den 1960er Jahren gemeinsam nach Deutschland auswanderten, bis ein Unfall sie für immer trennte.
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Habt ihr nicht versucht, Silvestro zu finden? In unserer digitalen Zeit wird es nicht so schwierig sein. Es wäre so schön, wenn sich die alten Freunde wieder treffen. 🙂
AntwortenLöschenDanke für deinen lieben Kommentar! 🙂 Das wäre wirklich schön gewesen. Wie der Titel schon sagt, hat die Geschichte keinen Happy End. Leider ist Silvestro bereits vor vielen Jahren in Frankreich verstorben. Mein Papa Francesco hat das damals sehr mitgenommen.
AntwortenLöschenAber du hast recht - in unserer digitalen Zeit wäre so eine Suche viel einfacher gewesen. Manchmal denke ich, wie schön es gewesen wäre, wenn die beiden sich noch einmal hätten wiedersehen können. Wer weiß, was sie sich alles zu erzählen gehabt hätten...
Die Erinnerungen an diese besondere Freundschaft bleiben aber für immer. Und vielleicht ist das ja auch das Wichtigste.