Zwischen Armut und Bildung: Francesco Viggianis Kindheit im Kapuzinerkloster
Zwischen Armut und Bildung: Francesco Viggianis Jahre im Kapuzinerkloster
Eine Jugend zwischen Klostermauern und dem Traum von der Welt
In der warmen Atmosphäre meiner Terrasse in der Toro Tapasbar in Karlsruhe entfaltet sich an diesem Abend eine Geschichte, die exemplarisch für die Nachkriegszeit Süditaliens steht. Mein Vater, Francesco Viggiani, geboren 1943 in Montescaglioso, erzählt mir und seinem langjährigen Freund Rocco seine Zeit im Kloster.
Die Geschichte von sechs prägenden Jahren seines Lebens – Jahren, die ihn beinahe zum Priester gemacht hätten.
"Komm, erzähl uns doch wieder deine Geschichte im Kloster", drängt Rocco, während ich schmunzelnd hinzufüge: "Oh ja, du wärst ja fast Priester geworden." Der Gedanke, dass mein Vater Francesco heute Priester sein könnte, bringt mich zum Lachen. Doch hinter dieser heute amüsant erscheinenden Wendung des Schicksals verbirgt sich eine Geschichte von Armut, Bildungshunger und schwierigen Entscheidungen im Italien der 1950er Jahre.
Der Weg ins Kloster: Eine Frage des Überlebens
Francesco Viggiani wächst in Montescaglioso ( nicht weit von Matera) auf, einem kleinen Ort in der Basilikata, wo Armut und Entbehrung nach dem Zweiten Weltkrieg allgegenwärtig sind.
1953, als Francesco etwa zehn Jahre alt ist, wendet sich eine fromme Nachbarin an ihn und seine Mutter mit einem Vorschlag, der das Leben des Jungen grundlegend verändern sollte: "Habt ihr schon mal mit dem Gedanken gespielt, ins Kloster zu gehen?"
Das Kloster "dei Cappuccini", das Kapuzinerkloster, bot mehr als nur spirituelle Bildung – es versprach Bildung überhaupt und vor allem eine warme Mahlzeit am Tag. Für Familien wie die Viggianis, die in einer Zeit ohne Strom und warmes Wasser lebten und oft mit knurrendem Magen zu Bett gingen, war dies ein Angebot, das man nicht leichtfertig ablehnen konnte.
"Ich wollte anfangs nicht ins Kloster", erinnert sich Francesco. "Ich spielte gerne in den Gassen von Montescaglioso mit meiner Gang. Ich hatte keine Lust auf Kloster, Priester und Kirche." Doch wie Rocco treffend bemerkt: "E va bene, i tempi erano quelli che erano" – nun ja, die Zeiten waren, wie sie waren. Am Ende überzeugten Mutter und Nachbarin den widerstrebenden Jungen – Gehorsam war in jenen Tagen nicht verhandelbar.
Bildung als Privileg: Die Klosterjahre
Nach einer hastigen Erstkommunion in Montescaglioso beginnt für Francesco eine sechsjährige Odyssee durch verschiedene Kapuzinerklöster Apuliens. Gemeinsam mit drei weiteren Jungen aus Montescaglioso – Paolo Petrozza, Agostino Liuni und Nunzio Di Taranto – tritt er die Reise nach Francavilla Fontana an, einer Gemeinde in der Provinz Brindisi.
Von den vier Jungen sollte nur Nunzio Di Taranto den eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen und Priester werden. Nach Francescos Wissen leitet er heute noch die Kirchengemeinschaft in Triggiano – ein Zeugnis dafür, dass der Weg ins Kloster für manche tatsächlich zur Berufung wurde.
Francesco selbst durchlief verschiedene Stationen seiner klösterlichen Ausbildung: Das erste Jahr in Francavilla Fontana, gefolgt von einer Zeit in Triggiano, zwei Jahre in Giovinazzo nahe Molfetta und schließlich das letzte Jahr in Terlizzi mit dem Schwerpunkt Philosophie. Diese geografische Mobilität war Teil des Bildungskonzepts der Kapuziner, das eine umfassende geistige und spirituelle Formung zum Ziel hatte.
"Wir hatten immer Unterricht", erzählt Francesco: "Altgriechisch, Latein, Mathematik. Wir hatten jeden Tag eine warme Mahlzeit. Es ging uns gut." Der Kontrast zum Leben zuhause könnte nicht größer gewesen sein – während in Montescaglioso Strom und warmes Wasser Luxusgüter waren, bot das Kloster nicht nur materielle Sicherheit, sondern vor allem Bildung, die für Kinder aus ärmeren Verhältnissen sonst unerreichbar gewesen wäre.
Alltag zwischen Gebet und Gelehrsamkeit
Das Leben im Kloster folgte einem strengen Rhythmus: "Jeder Tag war genau getaktet – beten, studieren und eine warme Mahlzeit", beschreibt Francesco die Struktur seiner Jugend. Die Gleichbehandlung aller Bewohner war dabei ein Grundprinzip: "Was im Kloster für die Mönche gekocht wurde, bekamen die Armen von draußen und wir Kinder auch." Diese soziale Gleichstellung innerhalb der Klostermauern stand in scharfem Kontrast zur Klassengesellschaft außerhalb.
Die Isolation von der Familie war jedoch der Preis für diese Bildungschance. In sechs Jahren war Francesco nur zwei bis drei Mal zu Besuch in Montescaglioso – seiner Mutter fehlte schlichtweg das Geld für Reisen. "Was heute WhatsApp oder E-Mail ist, gab es ja früher auch nicht", reflektiert Francesco die Kommunikationsprobleme jener Zeit. "Manchmal bekamen wir Briefe, aber ich frage mich heute, wer diese für meine Mutter geschrieben hat. Was für ein Leid, was für eine Armut."
Die Entscheidung: Zwischen Berufung und Lebenstraum
Agostino Liuni verließ bereits im ersten Jahr das Kloster – das asketische Leben entsprach nicht seinen Vorstellungen. Francesco und Paolo Petrozza hielten fünf Jahre durch, doch dann kam der Zeitpunkt der Entscheidung. "Irgendwann kommt dann der Zeitpunkt, wo man sich entscheiden muss. Wo geht der Weg hin?", beschreibt Francesco diese Lebensweiche.
Seine Entscheidung gegen das Priestertum war von einer bemerkenswerten Selbstreflexion geprägt: "Mir war klar, im Leben gibt es nichts Schlimmeres für ein Kind als ein schlechter Lehrer, ein schlechter Pfarrer und ein schlechter Vater... und ich wollte kein schlechter sein." Diese Erkenntnis zeugt von einer Reife, die durch die Jahre der intensiven Bildung und Selbstbesinnung entstanden war.
Der Aufbruch in ein neues Leben
Mit 16 Jahren verließ Francesco das Kloster und kehrte nach Montescaglioso zurück. Doch der Süden Italiens bot auch Mitte der 1960er Jahre wenig Perspektiven für junge Menschen. Wie viele seiner Generation suchte Francesco sein Glück im Norden – zunächst mit 20 Jahren in Mailand, ein Jahr später in Karlsruhe, wo er schließlich sesshaft wurde und als Gastronom erfolgreich war.
Historischer Kontext: Bildung als sozialer Aufstieg
Francescos Geschichte ist exemplarisch für die Rolle der katholischen Kirche in der Bildungslandschaft des Nachkriegsitaliens. Besonders in den strukturschwachen Regionen des Südens füllten Klöster und kirchliche Institutionen eine Lücke, die der Staat nicht schließen konnte. Sie boten nicht nur spirituelle, sondern auch säkulare Bildung und ermöglichten Kindern aus ärmsten Verhältnissen den Zugang zu Wissen und Kultur.
Die Kapuziner, ein Franziskanerorden, der sich der Armenseelsorge und Bildungsarbeit verschrieben hatte, spielten dabei eine besondere Rolle. Ihre Klöster waren oft die einzigen Bildungseinrichtungen in weitem Umkreis, die eine fundierte Ausbildung in klassischen Sprachen, Philosophie und anderen Geisteswissenschaften anboten.
Reflexion: Zwischen Tradition und Moderne
Heute, Jahrzehnte später, sitzt Francesco Viggiani auf der Terrasse seines Sohnes in Karlsruhe und erzählt diese Geschichte. Der Weg vom Klosterschüler zum erfolgreichen Gastronomen in Deutschland zeigt die Wandlungsfähigkeit einer Generation, die zwischen Tradition und Moderne, zwischen Süd und Nord, zwischen Armut und Wohlstand navigieren musste.
Rocco, der selbst aus der Region stammt und heute zwischen Castelmezzano in der Basilicata und Karlsruhe pendelt, versteht die Dimension dieser Erzählung: "Vergiss nicht, ich komme ja auch aus der Gegend und weiß, wie dreckig es den meisten Familien ging." Seine Worte unterstreichen die kollektive Erfahrung einer Generation, für die Migration und Anpassung überlebenswichtig waren.
Fazit: Eine Generation zwischen Welten
Francesco Viggianis Klosterjahre erzählen mehr als nur eine persönliche Geschichte. Sie illustrieren die komplexen sozialen und kulturellen Transformationen Italiens in der Nachkriegszeit, die Rolle der Kirche als Bildungsinstitution und die schwierigen Entscheidungen, vor denen junge Menschen in einer sich wandelnden Gesellschaft standen.
Die Ironie, dass aus dem beinahe-Priester ein erfolgreicher Gastronom in Deutschland wurde, mag heute zum Schmunzeln anregen. Doch sie verweist auch auf die Unvorhersagbarkeit von Lebenswegen und die Bedeutung von Bildung als Grundlage für persönliche Freiheit und gesellschaftliche Mobilität.
In einer Zeit, in der Bildungschancen oft als selbstverständlich betrachtet werden, erinnert Francescos Geschichte daran, welchen Wert Wissen und Lernen für diejenigen haben, die aus bescheidensten Verhältnissen stammen. Seine sechs Jahre im Kloster waren nicht nur eine spirituelle Ausbildung, sondern vor allem eine Investition in eine bessere Zukunft – eine Investition, die sich über die Jahrzehnte hinweg ausgezahlt hat, auch wenn sie einen anderen Weg nahm als ursprünglich geplant.
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Hier links mit dem frechen Grinsen: Francesco Viggiani. |
Labels: Montescaglioso, Klostergeschichte, Kapuziner, Süditalien, Nachkriegszeit, Bildungsgeschichte, Migration, Basilicata, Francavilla Fontana, Triggiano, Giovinazzo, Terlizzi, italienische Gastarbeiter, Karlsruhe, Geschichten des Südens
Meta-Beschreibung: Francesco Viggiani erzählt von seinen sechs Jahren im Kapuzinerkloster - eine Geschichte von Armut, Bildung und schweren Entscheidungen im Nachkriegsitalien. Von Montescaglioso über verschiedene Klöster Apuliens bis nach Karlsruhe: Eine Lebensgeschichte zwischen Tradition und Moderne.
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