Kindheit in Montescaglioso: Francesco, ein Junge zwischen Feldern, Hunger und Lebensfreude

 

Kindheit in Montescaglioso: Francesco, ein Junge zwischen Feldern, Hunger und Lebensfreude

Mein Vati heißt Francesco. Geboren wurde er 1943, in Montescaglioso, einem kleinen Ort, nicht weit von Matera, in der Region Basilikata in Süditalien. Wer das Gebiet nicht kennt: Basilikata zählt historisch zu den ärmsten Regionen Italiens. Noch bis in die 1950er Jahre hinein war der Großteil der Menschen dort Bauern oder Tagelöhner, oft abhängig von Landbesitzern, die große Ländereien wie kleine Königreiche verwalteten. Soziale Sicherung? Fehlanzeige. Fließendes Warmwasser? Ebenso. Man arbeitete, um zu essen. Und manchmal reichte es trotzdem nicht.


Francesco Viggiani erzählt, wie es damals war.


Francesco wuchs in einer dieser Familien auf.
Mit den anderen Geschwistern, Donato, Mario und Lina, musste er sich alles teilen.
Seine Mutter, meine Oma, war eine Frau, die wenig hatte und dennoch alles gab. Sein Vater war im Krieg. Erst an der Front irgendwo in Albanien, später in Gefangenschaft. Also war da diese Mutter mit ihren Kindern, ein kleines Haus, etwas Brot, vielleicht ein paar Bohnen, ein paar Kartoffeln. Nicht jeden Tag. Und ein Dorf, das arbeitete, schwieg und durchhielt.

Onkel Pierino und Tante Lina aus Montescaglioso.


Kindheit zwischen Feldern und staubigen Wegen

Als kleiner Junge hatte Francesco nicht viele Dinge. Aber er hatte Freiheit. Und eine Bande.

Er war sieben, vielleicht acht Jahre alt, als er mit den anderen Dorfkindern durch die Felder streifte. Im Sommer roch die Luft nach Staub und Feigen, im Winter nach Erde und Regen. Die Kinder waren immer außerhalb der Stadtgrenze unterwegs, dort, wo das Land weiter wurde und niemand genau hinsah.

Sie spielten Indianer. Cowboys. Räuber. Helden.
Und Francesco war der Anführer. Nicht, weil er der Stärkste war. Sondern weil er Ideen hatte. Er kannte die Bäume. Alle. Wusste, welcher Feigenbaum zuerst reifte, welcher Olivenbaum hoch kletterbar war, welcher Kaktus Feigen der Sorte Fichi d’India trug, die besonders süß waren.


Fichi d`India, sind für Francesco heute noch eine Götterspeise.


Und ja, sie klauten Obst. Natürlich klauten sie Obst. Die Früchte wuchsen überall und gehörten eigentlich irgendwem. Doch Kinder mit knurrendem Magen kennen keine Besitzrechte. Sie wissen nur: Hunger.

Francesco erzählte mir einmal, wie sie im Sommer eine Wassermelone stahlen. Sie war zu schwer, um sie weit zu tragen, also schlugen die Kinder sie einfach auf dem Feldboden auf. Hände rein. Essen. Klebrige Finger. Lachen. Und dann rennen, falls ein Bauer schimpfend auftauchte.

Das war kein „böses“ Verhalten. Es war Leben. Überleben. Und auch Freude. Weil das Lachen von Kindern immer echt ist, auch wenn es aus dem Mangel kommt.


Rauchen wie die Großen

Mit sechs, sieben, vielleicht acht Jahren begann etwas, das heute völlig unvorstellbar wäre: die ersten „Zigaretten“. Vor den Bars im Dorf lagen überall die Reste der Kippen, achtlos weggeschnipst von Männern, die sich eine Pause gönnten. Die "Gangmitglieder" sammelten diese Stummel ein, kratzten den verbliebenen Tabak heraus und rollten daraus eine neue Zigarette, oft in Zeitungspapier oder dünnen Karton gewickelt. Hinter dem Haus, dort wo niemand hinsah, wurde dann heimlich geraucht. Nicht aus Coolness, sondern weil es etwas war, das die Erwachsenen taten. Ein Spiel, ein Nachahmen, ein Hauch von „wir sind groß“. Und ja, es kratzte in der Lunge. Und ja, sie lachten dabei trotzdem. 



Die harte Realität seiner Mutter

Während Francesco spielte, kämpfte meine Oma. Sie war allein. Kein Mann, kein Einkommen, keine Hilfen. Nur der Alltag.

Frauen in Süditalien trugen damals das Überleben auf ihren Schultern. Sie nähten, kochten, hüteten Kinder, arbeiteten auf den Feldern, wenn jemand sie brauchte. Und manchmal, wenn das Geld nicht reichte, gingen sie selbst stehlen. Keine großen Dinge. Nur das, was man brauchte, um weiterzumachen.

Francesco und meine Oma gingen einmal nachts in Olivenhaine. Nicht mit Säcken. Nur mit dem, was in die Schürze passte. Ein paar Kilo Oliven, die man dann auf dem Schwarzmarkt verkaufte oder tauschte. Manchmal wurden daraus Schulhefte.
Stell dir das vor: Oliven gegen Bildung.
Das war der Preis eines Schulheftes.
So sahen Prioritäten aus, wenn man wenig hatte.

Warmwasser? Unbekannt.
Licht? Nur manchmal.
Toilette im eigenen Haus? Nein.
Schuhe? Ja. Aber die guten Schuhe wurden erst kurz vor der Kirchentür angezogen, um die Sohlen nicht zu verschleißen.

Das ist kein nostalgisches „Früher war alles besser“.
Denn früher war vieles härter.

Historischer Kontext: Armut in Basilikata (1940–1960)

Um zu verstehen, warum Francesco so aufwuchs, braucht man ein bisschen Hintergrund.

  • Arbeitslosigkeit in Süditalien (1940–1955): Schätzungen zufolge lag sie in manchen Regionen bei über 40 Prozent.

  • Bodenverteilung: Wenige Großgrundbesitzer kontrollierten riesige Flächen. Die Mehrheit der Bevölkerung arbeitete als Saisonarbeiter ohne feste Verträge, Löhne oder Sicherheit.

  • Auswanderung: Zwischen 1945 und 1970 verließen über 9 Millionen Italiener ihr Land, ein großer Teil davon aus Süditalien. Viele gingen nach Norditalien, Deutschland, Belgien, Frankreich oder in die USA.

  • Infrastruktur: Bis in die 1960er Jahre hinein hatten viele Dörfer kein fließendes Wasser im Haus. Man holte es vom Brunnen. Sanitäre Anlagen? Ein Luxus.

Diese Fakten sind keine Fußnoten der Geschichte. Sie erklären Lebensrealitäten. Sie erklären Francesco.

Francesco wurde älter

Mit zehn, elf Jahren änderte sich alles. Spielen war vorbei. Für viele Kinder begann die Zeit der Arbeit.
Vielleicht war das der größte Unterschied zur Kindheit heutiger Kinder.

Während heutige Kinder Schulbusse, Ranzen, Tablets und Spielsachen haben (und das ist völlig okay), mussten Kinder wie Francesco mit ungefähr zehn Jahren arbeiten gehen. Sie hüteten Tiere. Halfen bei der Getreideernte. Zermahlten Oliven. Trugen Holz.

Die Hände von Kindern waren keine Kinderhände.
Sie waren Werkzeug.

Mein Vater hatte Glück.
Francesco verbrachte, noch als Kind, einige Jahre in einem Kloster. Nicht, weil er besonders gläubig war oder werden sollte, sondern aus einem ganz praktischen Grund: Dort gab es Bildung. Und eine warme Mahlzeit am Tag. Für viele Familien war das damals ein sicherer Weg, die Kinder nicht völlig sich selbst zu überlassen. Es war keine harte oder düstere Zeit, aber eine stille. Der Tagesrhythmus war klar, streng, ruhig. Und Francesco war oft weit weg von Montescaglioso. Manchmal vergingen Monate, ohne dass er seine Mutter sah. Er lernte Alt-Griechisch und Latein, half in der Küche, spielte und betete. Nicht immer sein Ding, aber er lernte lesen und schreiben. Und das war, in dieser Welt, fast schon ein Versprechen auf Zukunft.

Später verließ er die Heimat. Wie so viele.
Er bekam einen Brief für die Musterung. Die Angst vor dem Dienst an der Waffe. Das war nicht sein Ding.

Er ging nach Norditalien. Nach Mailand. Dann weiter. Schließlich nach Deutschland, wie viele seiner Generation. Gastarbeiter. Man nannte sie damals „Fremde“.
Sie bauten Städte, Fabriken, Straßen, ohne dass jemand ihre Geschichten erzählte.
Sie sprachen schlecht Deutsch, schufteten hart, schickten Geld nach Hause.

Und irgendwann war er Vater.
Mein Vater.

Persönliche Reflexion

Wenn ich seine Geschichten höre, merke ich: Er erzählt nicht, um Mitleid zu bekommen. Er erzählt, weil es ihn geprägt hat. Sein Humor. Seine Sparsamkeit. Sein Drang, nie Essen zu verschwenden. Die Art, wie er einen Apfel schneidet, als wäre Obst wie Gold.

Francesco ist ein Mensch, der weiß, wie Hunger schmeckt.
Und wie Befreiung schmeckt, wenn man satt wird.

Ich schreibe das nicht, um zu romantisieren. Sondern um zu erinnern.
Denn wir sind nicht „besser“.
Wir hatten nur mehr Glück in unserer Zeit.


Persönliche Einblicke: Was diese Geschichte für mich bedeutet

Ich bin in einer Zeit und in einem Land groß geworden, in dem die meisten Grundbedürfnisse selbstverständlich sind. Essen, Heizung, Kleidung, Schule, Freizeit.

Und doch, manchmal, wenn ich mich über Kleinigkeiten beschwere, denke ich an Francesco, wie er barfuß durch staubige Felder rannte, lachend, mit klebrigen Feigenhänden.

Nicht, um mich schlecht zu fühlen.
Sondern um verstehen zu können, wo ich herkomme.
Und was in mir weiterlebt.

Menschen wie Francesco haben nicht nur „überlebt“.
Sie haben eine Welt aufgebaut, in der wir heute stehen.


FAQ: Häufige Fragen zur Zeit, zur Region und zur Geschichte

Warum war Süditalien nach dem Zweiten Weltkrieg so arm?
Die Region war landwirtschaftlich geprägt und stark von wenigen Großgrundbesitzern abhängig. Industrialisierung erfolgte spät. Die Kriegsjahre zerstörten zusätzlich Infrastruktur und Lebensgrundlagen.

Hatten Familien wie die von Francesco Zugang zu Bildung?
Ja, aber eingeschränkt. Staatliche Schulpflicht existierte, doch viele Kinder mussten arbeiten. Schulmaterialien kosteten Geld. Manchmal fehlte die Zeit oder die Mittel.

Warum stahlen Kinder Obst?
Weil Obst oft die einzige Quelle für Vitamine, Zucker und Energie war. Es wuchs überall, aber gehörte jemandem. Hunger führte zu pragmatischen Entscheidungen.

Welche Rolle spielte die Mutter in solchen Familien?
Sie war Zentrum und Überlebensgarant. Sie organisierte Nahrung, Kleidung, Alltag, Erziehung. Oft ohne Unterstützung, während Männer im Krieg, in Gefangenschaft oder auf Wanderschaft waren.

Warum verließen so viele Menschen später ihre Heimat?
Arbeitslosigkeit und fehlende Zukunftsaussichten. Die Industrie im Norden und in Mitteleuropa bot Jobs. Migration war keine Wahl. Sie war Notwendigkeit.

Wie erinnern Menschen wie Francesco ihre Kindheit heute?
Mit einer Mischung aus Härte und Wärme. Die Armut war belastend. Aber Gemeinschaft, Freundschaft und Naturerlebnisse waren intensiv. Das Lachen war echt. Trotz allem.


Meta-Beschreibung:
Ein persönlicher, historisch fundierter Blogartikel über die Kindheit meines Vaters Francesco in Montescaglioso während der Nachkriegszeit. Armut, Felder, Fichi d’India, Widerstandskraft und familiäre Stärke. Mit persönlichen Reflexionen und FAQ.

Labels:
Basilikata, Nachkriegszeit, Armut, Italien, Familiengeschichte, Migration, Kindheit, Lebenserzählung, Zeitgeschichte, Erinnerung

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